Donnerstag, 12. November 2015

Sehstile

Für das furchtsame Auge ist alles bedrohlich. Wenn wir mit einer furchtsamen Einstellung in die Welt hinausblicken, sehen wir- und konzentrieren wir uns auf- nichts anderes als potenziell bedrohliche oder schädliche Dinge. Das furchtsame Auge ist ständig von Gefahren umlagert.

Für das gierige Auge ist alles besitzbar. Habgier eine stärksten Antriebskräfte in der modernen westlichen Welt. Es ist eine traurige Tatsache, dass der Habgierige sich niemals über das freuen kann, was er hat, weil er fortwährend nach dem giert, was er noch nicht hat. Dabei kann es sich um Grundbesitz, Bücher, Firmen, Ideen, Geld, Kunstobjekte oder was auch immer handeln. Antrieb und Ablauf der Habgier bleiben einander stets gleich. Glück ist gleichbedeutend mit Besitz, aber leider gibt Besitz niemals Ruhe; er wird von einem unersättlichen Hunger nach Selbstvermehrung gepeinigt. So wird Habgier immer von künftigen Möglichkeiten fortgerissen und kann sich nie auf das Gegenwärtige einlassen. Ein noch unheimlicherer Aspekt der Habgier ist allerdings ihre Fähigkeit, das lustvolle Verlangen abstumpfen zu lassen und zuletzt völlig auszulöschen. Sie zerstört die natürliche Unschuld der Verlangens, trägt seine Horizonte ab und ersetzt sie durch eine getriebene, verkümmerte Besitzgier. Ebendiese Gier vergiftet gegenwärtig die Erde und lässt ihre Menschen verarmen. Das Haben ist zum unheimlichen Widersacher des Seins geworden.

Für das urteilende Auge ist alles in unveränderlichen Kategorien eingesperrt. Wenn das urteilende Auge hinausblickt, sieht es eine geometrische Welt, einen Raster aus Linien und Rechtecken. Unentwegt ist es damit beschäftigt, Dinge auszuschließen oder zu trennen, und so vermag es niemals auf eine wirklich mitfühlende oder staunende Weise zu sehen. Sehen bedeutet urteilen. Leider geht das urteilende Auge mit sich selbst genauso streng ins Gericht wie mit dem Rest der Schöpfung. Es sieht einzig die Bilder aus sich heraus projizierten gequälten Innerlichkeit. Das urteilende Auge erntet die gespiegelte Oberfläche und nennt sie Wahrheit. Es besitz weder die Nachsicht noch die Vorstellungskraft, die es ihm erlauben würden, tiefer, bis auf den Grund der Dinge, zu blicken, wo die Wahrheit paradox ist. Die logische Folge einer solchen Ideologie des leichtfertigen Urteils ist eine oberflächliche, von Schein und Erscheinung getriebene Kultur.

Für das neidische Auge ist alles durch Missgunst entstellt. Menschen, die es dem Krebsgeschwür des Neids gestattet haben, in ihr Gesichtsfeld zu gelangen, können sich nie an dem erfreuen, was sie sind oder was sie haben. Fortwährend sehen sie andere mit scheelem, missgünstigem Blick an. Ihr Problem rührt möglicherweise daher, dass ihnen alle anderen schöner, begabter oder reicher als sie selbst zu sein scheinen. Das neidische Auge lebt aus seiner Armut heraus und vergisst die eigene innere Ernte.

Für das gleichgültige Auge ist alles stumm; Nichts spricht es an oder rüttelt es auf. Gleichgültigkeit ist eines der Hauptkennzeichen unserer Zeit. Es heißt, Gleichgültigkeit sei die notwendige Begleiterscheinung der Macht: Um herrschen zu können, muss man hinlänglich gleichgültig gegenüber den Bedürfnissen und der Verletzlichkeit der Beherrschten sein. Daher setzt Gleichgültigkeit einen starken "Willen zum Nichtsehen" voraus. An sich Augenfälliges erfolgreich zu übersehen, erfordert ein unglaubliches Quantum geistiger Energie. Gleichgültigkeit treibt den Menschen -ohne dass er sich dessen bewusst wäre- über die Grenze, jenseits derer Mitgefühl, Heilung und Liebe Fremdwörter sind. Wenn wir gleichgültig werden, geben wir all unsere Macht ab. Unsere Vorstellung bleibt in einer Schwebe zwischen Zynismus und Verzweiflung hängen.

Für das minderwertige Auge ist jeder andere Mensch besser. Andere sind schöner, intelligenter und begabter. Das minderwertige Auge übersieht konsequent die Schätze, die es eigentlich besitzt. Es kann niemals seine eigene Gegenwart und sein eigenes Potential feiern. Das minderwertige Auge ist blind für seine eigene geheime Schönheit. Das menschliche Auge ist nicht dafür konzipiert, zum anderen emporzusehen und ihn so zu einem Höheren, noch auf ihn herabzusehen und ihn zu einem Minderwertigen zu machen. Jemandem in die Augen zu blicken, ist ein schönes Zeugnis von Wahrhaftigkeit, Mut und Erwartung. Beide stehen dann auf gemeinsamem, aber je verschiedenem Boden.

Für das liebende Auge ist alles wirklich. Diese Liebe ist weder sentimental noch naiv. Dies Liebe ist das höchste Kriterium der Wahrheit, der Wertschätzung und der Wirklichkeit. Die englische Dichterin Kathleen Raine sagte einmal, außer man sieht etwas im Licht der Liebe, sieht man es überhaupt nicht. Die Liebe ist das Licht, in dem wir Licht sehen. Die Liebe ist das Licht, in dem wir alle Dinge gemäß ihrem wahren Ursprung, ihrer wahren Natur und ihrer wahren Bestimmung sehen. Wenn wir es nur vermöchten, die Welt liebevoll anzublicken, würde sie sich wie eine Einladung vor uns auftun - tief und angefüllt mit Möglichkeiten.
Das liebende Auge vermag es sogar, Leid, Schmerz und Gewalt zur Wandlung und Erneuerung zu verlocken. Das liebende Auge leuchtet, weil es selbständig und frei ist. Es kann absolut alles liebevoll anblicken. Der liebevolle Blick verfängt sich nicht in den Mechanismen von Macht, Verführung, Opposition oder Komplizität. Ein solcher Blick, eine solche Vision ist schöpferisch und subversiv. Sie erhebt sich über die jämmerliche Arithmetik von Schuldzuweisung und Wertung und macht die Erfahrung an ihrem Ursprung, ihrer Struktur und ihrer Bestimmung fest. Das liebende Auge blickt durch die Erscheinung hindurch und über sie hinaus und bewirkt die tíef greifendste Veränderung.

Der Gesichtssinn ist ein wesenhafter Aspekt unserer Gegenwart und Kreativität. Die Einsicht in die Weise, wie wir die Dinge sehen, kann uns zu Selbsterkenntnis verhelfen und uns befähigen, die wunderbaren Schätze, die unser Leben in sich verbirgt, zu erspähen.

Jenseits alles Sichtbaren liegt etwas Unbegreifliches und gleichzeitig etwas ganz Klares. In ihm liegen die Antworten auf alles. Lerne genau hinzuschauen!
~Lionraven

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