Donnerstag, 29. Oktober 2015

Das Gesicht ist die Ikone der Schöpfung

Die Landschaft ist das Erstgeborene der Schöpfung. Sie war bereits Hunderte von Millionen von Jahren da, bevor die Blumen, die Tiere oder die Menschen erschienen. Die Landschaft war völlig allein da. Sie ist das älteste alles Vorhandenen in der Welt, aber sie bedarf der Anwesenheit des Menschen, der sie erst anerkennen kann. Man könnte sich vorstellen, dass die Ozeane verstummten und die Winde sich legten, als das Gesicht des Menschen hier auf Erden erschien. Es ist das Erstaunlichste, was je erschaffen wurde. Im menschlichen Gesicht verinnerlicht sich die Anonymität des Universums zur Intimität. Der Traum der Winde und der Ozeane, die Stille der Sterne und der Berge haben im menschlichen Gesicht eine mütterliche Gegenwärtigkeit erreicht. Die verborgene, heimliche Wärme der Schöpfung kommt hier zum Ausdruck. Das Gesicht ist die Ikone der Schöpfung. Der Geist des Menschen ist der Ort, wo das Universum erstmals mit sich selnst in Resonanz tritt. Das Gesicht ist der Spiegel des Geistes. Im Menschen findet die Schöpfung die Intimität, nach der sie sich stumm verzehrt. Der Spiegel des Geistes ermöglicht es der diffusen, unendlichen Natur, sich ihrer selbst gewahr zu werden.
Das menschliche Gesicht ist eine künstlerische Leistung des Schöpfers. Auf so kleinem Raum kann eine wahrhaft unglaubliche Vielfalt und Intensität geistig-seelischer Präsenz zum Ausdruck kommen. Diese Präsenz überflutet die Begrenzungen der physischen Form. Keine zwei Gesichter sind einander vollkommen gleich. In jedem manifestiert sich eine spezifische Art von Präsenz. Jedes Gesicht ist eine besondere, bestimmte Intensität menschlicher Gegenwärtigkeit. Wenn wir jemanden lieben und lange Zeit von ihm getrennt sind, ist es schön, einen Brief oder einen Anruf von diesem Menschen zu erhalten oder auch nur in der Stille unseres Geistes seine Gegenwart zu spüren. Wie viel beglückender ist es aber, das geliebte Gesicht nach langer Trennung wiederzusehen! In diesem Augenblick feiern unsere Augen ein wahres Freudenfest. In diesem Gesicht erkennen wir die Intensität und Tiefe liebender Gegenwart, die uns anblickt und uns begegnet. Es ist wunderschön, sich wiederzusehen. In bestimmten afrikanischen Sprachen lautet die Konventionelle Grußformel übersetzt so viel wie "Ich sehe dich". Und wenn man in Connemara jemandem seine Bewunderung und Zuneigung ausdrücken will, sagt man: "Die Gesichter der Leute sind dir zugewandt." Wenn man auf dem Land wohnt, in der Stille und Einsamkeit, dann haben Städte etwas Erschreckendes. In Städten gibt es eine unglaubliche Anzahl von Gesichtern zu sehen-Gesichter von Unbekannten, die sich unentwegt eilig und zielstrebig irgendwohin begeben. Wenn man sich die Gesichter anschaut, sieht man, wie die jeweilige Intimität ihres Lebens abgebildet ist. In gewissem Sinne ist das Gesicht die Ikone des Körpers, der Ort, an dem sich die innere Welt der Person manifestiert. Das menschliche Gesicht ist die subtile, aber trotzdem sichtbare Autobiographie jedes Einzelnen. Wie sehr wir uns auch bemühen mögen, unsere innere Lebensgeschichte geheim zu halten - unser Gesicht können wir nie ganz verstecken. Wenn wir die Sprache des Gesichts wirklich beherrschen würden, könnten wir selbst die verbotensten Geheimnisse eines fremden Lebens entziffern. Das Gesicht ist immer der vollkommene Ausdruck der Seele: In ihm findet die Göttlichkeit des inneren Lebens ein Echo und Abbild. Wenn wir jemandes Gesicht gewahr werden, werfen wir einen tiefen Blick in sein Leben.



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