Gedanken überschlagen sich in meinem Kopf. Erwartungen, Thermine, was ich noch zu erledigen habe...
Entschlossen bewege ich mich auf den Pfad zu. Der mich in den Wald führt. Meine wahre Heimat. Ich höre das Rascheln der Blätter, das Singen der Vögel, das Zirpen der Grillen. Es ist Spätsommer. Langsam spüre ich, wie die Gedanken in meinem Kopf ruhiger werden und schließlich abebben. Ich weiß, dass sie nicht real sind. Deswegen gebe ich ihnen auch keine Kraft.
Meine Schritte tragen mich gemächlich weiter. Freudig begrüße ich die Fichten, Tannen, Buchen und Eichen. Die Bäume grüßen zurück. Ich kann ihre alten und tiefen Stimmen hören. Wie weise sie sind! So voller Geschichten und Erzählungen. Ich gehe zu meinem Kraftbaum. Einauge, heißt er. Eine 200 Jahre alte Buche. Ich setze mich in seinem Wurzelthron und lausche. "Du bist gekommen, ich danke dir! Du bist wunderschön." Danke für deine Kraft, sage ich zurück. Meine Hände ruhen auf seiner Rinde. Meine Sinne verschmelzen mit seinen Ästen, Blättern und seinem Holz. Ich bin nun der Baum. Durch die Wurzeln kann ich den Wald atmen hören und spüren. Ich sehe alles, überschaue alles. Was für ne Aussicht! Der ganze Wald in mir. Und ich in ihm. Sobald genügend Kraft mich durchfließt, verabschiede ich mich von Einauge und führe die Reise fort. Es geht über Lichtungen, auf denen hauchdünne Wesen mit den Winden tanzen, vorbei an düsterem Dickicht, wo sich ein Igel und ein Marder unter dem Laub verstecken. Meine Schuhe ziehe ich aus. Ich brauche sie für heute nicht mehr. Ich möchte die wohltuende Erde spüren, die mich trägt und behütet. Barfuß geht es einem alten Pfad entlang. Das Gras kitzelt an den nackten Füßen. Ich fange an zu laufen. Die Bäume scheinen mir den Weg zu bereiten und weichen meinem sausenden Körper aus. Plötzlich bleibe ich stehen. Ein strahlend weißer Hirsch stellt sich mir in den Weg. Behutsam, ganz vorsichtig bewege ich mich auf ihn zu. Angst habe ich keine. Ich weiß, wenn ich Angst empfinden würde, wäre ich ein willkommenes Angriffsziel. Aber warum sollte er mich angreifen? Er ist ein guter Freund von mir. Eine Wächterseele, die ich schon sehr lange kenne. Von alten Erinnerungen bewegt, nähere ich mich seinem erhabenen Haupt. Sein Geweih scheint in der durch die Äste schimmernde Sonne zu glänzen. Meine Lippen berühren sanft seine Stirn. Ein Kuss der Verbundenheit. Der Hirsch bleibt ruhig. Als ich mich jedoch ein paar Schritte entferne, macht er einen gewaltigen Satz und verschwindet hinter dem nächsten Hügel. Ich folge ihm. Dahinter ist wieder eine kleine Lichtung. Doch der Hirsch zeigt sich nicht mehr. Was ich sehe, sind uralte Steine. Drei große nebeneinander. Rings herum kleinere. Ein Steinkreis. Ich sehe Bilder aus einer vergangenen Welt. Schamanen und Druiden, die tanzten, beschworen und sangen. Meine Hand streckt sich intuitiv zum größten der drei Steine aus, als ich herantrete. Und wieder durchfahren mich Bilder. Dann beginnt sich in mir ein Lied zu manifestieren. Keiner kennt diese Sprache. Niemand spricht sie mehr. Ich singe, was ích höre und sehe. Von vergangenen Tagen. Von Jahrstausenden des Krieges, des Friedens und der Weisheit. Singe vom Regen, der die Erde nährt. Von Orten der Stille, vom Blut der Berge. Singe von einer Sehnsuht nach Liebe. Die Worte hallen im ganzen Wald wider. Nur er hört sie. Und ich. Es ist ein altes, vergessenes Lied. Alles um mich herum, scheint gerührt zu sein. Sogar die Bäume weinen. Auch ich bin zutiefst bewegt. Es ist nicht mein Lied. Es kommt vom Herzen des Universums. Die Vögel haben aufgehört zu singen, der Wind hat sich gelegt, alles lauscht dem Klang des Liedes. Das ansteigt und abschwächt. Ruft, ruft die alten Tage von einst. Singt von dem, was war und sein wird. Da kommen die Krähen. Zu Dutzenden. Ihr Krächzen lässt den Wald erzittern. Sie kommen von Norden, Süden, dem Osten und dem Westen. Ihr schwarzes Gefieder verschluckt jegliches Licht. Ich kenne sie...meine Brüder. Gestaltwandler, wie ich. Ihre Schwingen flattern, ihre Federn peitschen sich in die Lüfte. Sie landen. Dann wird es still. Das Lied ist zu Ende. Ich drehe mich um. Schaue in unergründliche Augen nackter Jünglinge. War ihr Gefieder schwarz, so ist ihre Haut nun weiß, wie die Borke einer Birke. Freundlich nicke ich ihnen zu. Bedanke mich, auf dass sie gekommen sind. Gemeinsam suchen wir einen Bach auf. Kristallklares Wasser sprudelt das Tal hinunter. An einer geeigneten Stelle, die hoch gelegen ist, ziehe ich meine Kleidung aus. Spüre die sanfte Brise, die mich liebkost. Die Abendsonne schillert über meinen nackten Körper, bis die letzten Sonnenstrahlen hinter den Bergen verschwinden. Es ist Zeit. Die ersten Sterne zeigen sich. Ich bin bereit! Niemand wird mich so zu Gesicht bekommen. Und das darf auch niemand. Kein Mensch soll jemals wissen, was ich wirklich bin. Ich zeige mich in meiner wahren Gestalt. Meine Haut wird von weiß zu bläulich und beginnt zu schimmern. Wie der Sand am nächtlichen Meer. Wie die Sterne über mir. Ich wachse. Werde größer. Ich bin nun reine Essenz. Der Vollmond bescheint den Bach. Die anderen baden bereits freudig im Wasser. Lachen, scherzen, erzählen sich Geschichten. Ich fließe förmlich durchs Mondwasser und schließe mich ihnen an. Der Mond spricht zu uns allen in einer klaren, hellen Stimme. Seine Musik, die er macht, ist magisch. Verzaubert uns. Alles Geheimnisvolle, alle Materie, alles Versteckte ist nun aufgedeckt. Grenzenlose Liebe und Verbundenheit durchdringt uns. Das Wasser erfüllt unsere Körper mit Kraft und sensiblen Eindrücken. Wäscht uns rein. Als nächstes machen wir ein Feuer. Tragen altes Holz zusammen. Stapeln es zu einem hohen Turm. Die Flammen lodern hell und gierig in die Nacht. Alles ist durchdrungen von Leidenschaft und purer Lust. Wir lassen uns trocknen von den Feuerzungen. Ein Jüngling stimmt einen Ton an. Wir anderen schreien und singen in das Feuer hinein, wodurch es noch inbrünstiger lodert. Es soll verbrennen, was uns hindert wir selbst zu sein. Es soll Zweifel, Hass und die Angst verbrennen. Mit der Wärme soll das Feuer unsere Herzen nähren. Auf dass sie niemals schwach werden und auf Ewig schlagen mögen, für die die wir lieben. Wir tanzen, drehen uns in Trance, nehmen uns bei den Händen und feiern so die ganze Nacht hindurch. Bis die Morgenröte anbricht. Das Feuer ist aus. Die Krähen weg. Allein lieg ich zurück. Zufrieden, glücklich. Jemand wird zweifeln an dieser Geschichte. Ja, es ist eine Geschichte des Zaubers. Eines Zaubers, den die Menschheit leider vergessen hat. Aber wir sind die Erinnerung. Ich schaue in den Osten. Erkenne die ersten Sonnenstrahlen und sage: "Ja, wir sind die Kinder des vergessenen Morgens!"
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